Wenn das Verlorene aufleuchtet
Seminar mit Heidemarie Langer weiterlesen
Seit 1986 unterhält der Evangelische Kirchenkreis Saar-West eine Partnerschaft mit dem Kirchenkreis Goma der Gemeinschaft baptistischer Kirchen in Zentralafrika (Communauté Baptiste au Centre de l’Afrique, CBAC) in der Demokratischen Republik Kongo. Nachhaltiges Fundament der Partnerschaftsarbeit sind wechselseitige Besuche in Goma und im Saarland.
Seit 30 Jahren ist die DR Kongo Austragungsort von kriegerischen Auseinandersetzungen aufgrund von Rohstoffhandel mit Erdedelmetallen. Überfälle durch Milizen, Gewalt und Entführungen sowie massive Fluchtbewegungen sind dort erschreckender Teil des Alltags. Seit ein paar Jahren steht Goma im Osten des Kongo im Zentrum eines militärischen Konflikts zwischen Rebellen und Regierungstruppen um die Vorherrschaft in der Region.
Nach einem Besuch der kongolesischen Partner im Saarland 2022, reiste vom 11. bis 25. Februar eine vierköpfige Delegation aus Saarbrücken nach Afrika.
Hans Jürgen Gärtner vom Regionalen Dienst der Vereinten evangelischen Mission (VEM) hat die Delegation begleitet. Er berichtet von ihren Erlebnissen in der Demokratischen Republik Kongo:
„In Zeiten der Not erkennt man wahre Freunde“, oder „Wir sind so dankbar, dass ihr euch in diesen schwierigen Zeiten hierher getraut habt“, solche Worte hat die Delegation aus dem Saarland immer wieder bei ihrem Besuch gehört. Tatsächlich ist der gesamte zweiwöchige Besuch in Goma überschattet von den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der kongolesischen Armee und den M23-Rebellen, die mittlerweile bis nach Sake, rund 27 km westlich von Goma vorgedrungen sind.
Die häufigste Frage, die von Freunden aus Deutschland gestellt wird, lautet: Seid ihr in Sicherheit? Diese Frage scheint sehr berechtigt, wenn man bedenkt, dass eine Entfernung von 27 km zur Front nicht gerade viel ist. Vor unserer Ankunft hat sich auch irgendwo in den nördlichen Randgebieten Gomas eine Detonation ereignet, die aber wohl keine Opfer gekostet hat. In der Nacht zum 17. Februar hat eine Drohne unbekannter Herkunft auf dem Flughafen Gomas eine Zivilmaschine getroffen, die dort geparkt war. Auch hier wurde niemand verletzt. Wir erfuhren von alledem aus der Presse und nicht durch eigenes Erleben. Und das beschreibt eigentlich die Lage ziemlich gut. Als Besucher aus Europa könnte man Goma genauso erleben, wie sonst auch: als laute, geschäftige, zuweilen etwas schmutzige Stadt, in der die Gegensätze groß sind, in der man aber – gut behütet von der Partnerkirche – problemlos sich bewegen und Besuche machen kann. Eine Stadt, in der die Menschen allen möglichen Geschäften nachgehen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Eine Stadt, in der die Menschen am Sonntagnachmittag bei einem Bier und etwas Gegrilltem den Alltag hinter sich lassen, in der Hochzeiten gefeiert, getanzt und gesungen wird.
Wenn da zwei Dinge nicht wären: zum einen die (kongolesischen und internationalen) Nachrichten, die über den Kriegsverlauf berichten und zum anderen die Flüchtlingslager in den Außenbezirken Gomas, in die ständig Menschen aus den umkämpften ländlichen Gebieten nachströmen.
Das Flüchtlingslager Kanyarushinya liegt nordöstlich von Goma, nicht weit entfernt von der Grenze zu Ruanda. Hier kommen vor allem Vertriebene aus den Gebieten nördlich der Stadt an, aus Nyiragongo und Rutshuru. Wer Glück hat, kommt bei Verwandten in der Stadt unter, für alle anderen bleiben nur Behausungen aus Zeltplanen auf der nackten Erde.
Safari Kanyena, der Koordinator für humanitäre Fragen der CBCA berichtet über die Arbeit, die diese VEM-Mitgliedskirche im Lager leistet: „Das Wichtigste, was diese Menschen brauchen, ist sauberes Trinkwasser sowie sanitäre Einrichtungen. Wo das nicht gewährleistet ist, kommt es unweigerlich zu Krankheiten.“ Die ersten Cholera-Fälle aus Goma wurden während unseres Aufenthaltes berichtet. Dann muss gesorgt werden für Nahrung, eine Unterkunft, Gesundheitsversorgung sowie für grundlegende Haushaltsgeräte wir Töpfe, Schüsseln usw.
Natürlich sind für all das auch viele internationale Hilfsorganisationen zuständig. „Die Hilfsorganisationen leisten gute Arbeit“, meint Safari Kanyena, „aber mit Verspätung. Es braucht einfach zu lange, bis diese Hilfen anrollen. Wir als Kirche leisten bis dahin sozusagen Erste Hilfe, denn die Menschen brauchen heute Trinkwasser und etwas zu Essen.“
Aber auch die CBCA muss ihre Kräfte einteilen und sich auf Schwerpunkte ihrer Hilfsarbeit konzentrieren. In Kanyarushinya kümmert sie sich in erster Linie um die traumatisierten Kinder. Zur Trauma-Arbeit mit Kindern wird Spielzeug eingesetzt, gleichzeitig wird ein schulisches Angebot aufgebaut. Die notdürftig errichteten Grund- und Sekundarschulen aus Zeltbahnen müssten eigentlich zumindest aus Holz gebaut und mit einem ordentlichen Dach versehen werden. Aber das benötigte Bauholz kommt in normalen Zeiten eben aus Rutshuru und Masisi, beides zurzeit Rebellengebiet.
Im Flüchtlingslager Bulengo hingegen liegt der Schwerpunkt der kirchlichen Arbeit auf der Gesundheitsversorgung und Vorbeugung. Es gilt, dem Ausbruch von Epidemien vorzubeugen, aber auch Verletzungen zu behandeln, die sich Menschen vor oder während ihrer Flucht zugezogen haben. Das Bethesda-Krankenhaus, das die CBCA in Goma betreibt, behandelt mittlerweile fast ausschließlich Schusswunden und Verletzungen infolge von kriegerischer Gewalteinwirkung. „Hier bräuchten wir dringend fachliche Unterstützung von Spezialisten für bestimmte häufig vorkommende Knorpelverletzungen“, sagt Dr. Jonathan Kavusa Kivatsi, Präsident der CBCA.
Aber auch, wer es unverletzt in ein Flüchtlingslager geschafft hat, ist noch längst nicht in Sicherheit. Der Mangel an Essen und Geld treibt insbesondere Frauen dazu, in den Gebieten außerhalb Gomas brachliegende Felder nach Nahrungsmittel zu durchsuchen. Ein hochriskantes Unterfangen, da sie hier Gefahr laufen, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden. Oder Frauen verkaufen gleich ihren Körper, um an Geld zu gelangen, damit sie wenigstens ihren Kindern davon etwas zu Essen kaufen können. Hier hilft die Kirche, indem sie den Betroffenen alternative Einkommenserwerbe aufzeigt.
Der Krieg hat aber nicht nur Auswirkungen für die Vertriebenen. Auch die Bevölkerung Gomas merkt die Folgen schmerzlich. Vor allem wird alles teurer. Diejenigen, die Verwandte bei sich aufnehmen, müssen mehr Mäuler im Haushalt stopfen, ohne mehr Einkommen zu haben. Im Gegenteil: Normalerweise wird Goma mit Gemüse und landwirtschaftlichen Produkten aus dem (jetzt nicht mehr zugänglichen) Umland versorgt. Die traditionellen Chukudus, selbst gebaute traditionelle Lastenfahrräder, mit denen sonst die Nahrungsmittel nach Goma geschafft werden, kommen nur noch selten durch und nur unter hohem Risikoeinsatz der meist jungen Händler. Das Nahrungsmittelangebot verknappt sich, gleichzeitig müssen immer mehr Menschen ernährt werden, also steigen die Preise. Das hat unmittelbare Konsequenzen für die sonntäglichen Kollekten der örtlichen Kirchen. Wer nicht genug für sich und die Familie hat, gibt weniger in die Kollekte. Dennoch hat die Kirchenleitung an die Gemeinden appelliert, für die Geflüchteten zu spenden: Kleidung, Geschirr, Nahrung, alles ist willkommen.
Wir als Besucher aus Europa waren jederzeit sicher in Goma. Hätten die Rebellen sich der Stadt genähert, hätten wir unseren Rückflug vorziehen, über die Grenze nach Ruanda ausweichen oder mit einem täglich verkehrenden Linienboot in den Süden in die sichere Grenzstadt Bukavu fahren können. Diese Optionen haben die Menschen in Goma nicht. Dennoch war in unserer Partnerkirche in keinem Moment so etwas wie Resignation zu spüren. Sorge um die Zukunft sehr wohl: Wer weiß schon, wie sich das alles entwickelt. Aber bis dahin tun unsere Partner das Nötige und das Richtige unter den jeweiligen Bedingungen. Viele haben in dieser Zeit während unseres Aufenthaltes für uns gebetet. Wir möchten, dass nicht für uns, sondern die Opfer des Krieges gebetet wird: für diejenigen, die fliehen mussten, ebenso wie für diejenigen, die sie aufnehmen und versorgen.